Filzen bedeutet Hingabe an das Material und an den künstlerischen Prozess. Am Anfang steht die Idee. Eine transzendente Idee. Sie verlässt alles Gewohnte und überschreitet Grenzen der Wahrnehmung. Da sind Filz-Büschel und ein Vorhaben. Wer die Technik kennt, weiß, dass ein halber Quadratmeter bereits ein Mammut- Projekt sein kann. Jeder Quadratzentimeter gebildet aus einhundert Nadelstichen oder mehr. Kunst ist nicht nur Intuition und schöpferische Kraft. Kunst entsteht in der Handlung. Die Idee gepaart mit rationalem Denken entwickelt sich unter Einsatz körperlicher Kräfte zu einem Werk.
Es begeistert mich, die Zeit anzuhalten. Nadelstich für Nadelstich. Filzen ist im herkömmlichen Sinne eine Handarbeit zur Herstellung von Kleidungsstücken. Wann aber wird die Handarbeit zur Kunst? Ich nehme die Nadel und steche in die losen Wollfäden hinein. Schaue dem Gesamtkunstwerk, meiner Idee entgegen. Die Idee, das Ziel erhebt sich wie ein Berg vor mir.
Ein Filzberg unermesslichen Ausmaßes. Kaum zu bewältigen. Ein manchmal mehrere Wochen andauernder Prozess. „Berge versetzen“ bedeutet hier, dass ich den Berg nicht anschaue. Ich verkleinere also meinen Radius. Wende mich von meinem Ziel ab und lenke meine Konzentration auf einen Punkt hinter dem großen Ganzen. Frei von jeder Bewertung, frei von Zeit und Raum. Arbeite losgelöst nur in dem Moment, in dem ich mich gerade jetzt befinde. Gedanken fliegen vorbei. Rhythmus entsteht. Wie in der Musik. Filzen ist Musik. Sie vermag uns anzuhalten. In den Moment hinein zu führen, in dem wir jetzt sind. Eine Berührung erleben in der Tiefe des Seins.
Am Anfang stehen eine Idee und die pure lose Wolle in verschiedenen Farben vorgefärbt und die Nadel. Und meine Hand und mein Kopf. Freie Entscheidung. Niemand zwingt mir etwas auf. Das ist der Unterschied zwischen künstlerischer und industrieller Arbeit. Ich arbeite nicht orientiert am Bedarf, aber ich arbeite für ein Gegenüber, das später in Resonanz mit meinem Werk tritt.
Der Filzprozess spiegelt alles Unsichtbare. „Kunst gibt nicht das Sichtbare wider, sondern macht sichtbar“ (Paul Klee). Die Prozesse der letzten Jahre kreisten um das Portraitieren menschlicher Wesenszüge. Die Frage, was ist ein Wesen und wie kann man Wesenszüge sichtbar machen, beschäftigte mich intensiv. Jede Farbe hat ein Wesen. So ist das Wesen der Farbe Rot rot und nicht blau oder gelb oder grün. Das schien mir in seiner Logik so bestechend einfach, dass ich mich intensiv damit auseinandergesetzt habe. Mein Anliegen war, die Farbe von subjektiven emotionalen Bewertungsmustern zu befreien. So habe ich synästhetische Portraits in Farben von Menschen des öffentlichen Lebens gefertigt. Interessant schien mir vor allem der umgekehrte Weg der Abstraktion. Nicht sichtbares sichtbar machen, also meine synästhetischen Fähigkeiten in Bezug auf Wesenszüge und Farben.
Seit Mitte 2023 habe ich mich entschieden, meiner künstlerischen Arbeit neuen Raum zu verschaffen. Ich fühlte mich plötzlich gefangen in meinem eigenen Konzept. Hatte irgendwie meine künstlerische Freiheit verloren. War nicht mehr wirklich offen für die Freiheit der Kunst mit ihrer unbegrenzten Themenvielfalt. Meine Gedanken kreisten häufig um die Frage der Formatwahl und ob das Werk geschützt werden muss. So habe ich mich schließlich entschieden, bezüglich der Wesensportraits eine Pause einzulegen und ältere Themen aus meiner Studienzeit wieder aufzugreifen. Mit dem Filz ergab sich nun eine ganz neue Perspektive der Formengestaltung. Zunächst wählte ich erneut das Thema Portrait in abstrahierter Form. Meine Entwürfe entstehen auch heute noch fotografisch und digital weiter verarbeitet, die weitere Ausführung dann in Filztechnik auf Leinwand und Keilrahmen. Hier komme ich zurück zu meinen Ursprüngen als
intermediale Malerin.
Meine Abschlussarbeit hatte ich 1999 bei Walter Dahn mitttels Computertechnik geprägten Malereien absolviert. Seit jeher waren meine Kernthemen Bewegung, Struktur und Wahrnehmung. Die aktuelle Serie heißt „Flowers on the Move“.
Blumen sind Friedensbotschafterinnen, welche Trost und Freude spenden können.
Das Thema Wesen kommt auch bei dieser Arbeit zum Ausdruck, jedoch weniger wissenschaftlich orientiert. Es geht hier um den Prozess der Abstraktion ausgehend von einem konkreten Objekt. Hier wird nicht Unsichtbares sichtbar, sondern Sichtbares verschleiert, fast unkenntlich gemacht und in eine andere Wahrnehmung geführt.
In den Jahren 2005-2016 hatte ich mich bereits intensiv mit dem Thema Nähe Distanz auseinandergesetzt. Je näher wir einem Menschen zum Beispiel kommen, umso undeutlicher wird er für uns. Je intensiver wir uns mit Menschen, Objekten oder Fakten, beschäftigen umso schwieriger ist es, das wesenhafte, die Essenz zu erkennen. Es kommen immer mehr Aspekte hinzu, die das Eigentliche verschleiern. Auf der Suche nach Wahrheit erkennen wir nur eines, dass wir weniger erkennen, je näher wir einer Sache kommen. Die Distanz ermöglicht einen anderen Blick auf das Wesenhafte zum Beispiel einer Blume oder eines Menschen oder einer Landschaft. Daher bewege ich mich in meiner Arbeit sehr häufig im maximal möglichen Unschärfebereich. Die Filznadeltechnik ist das perfekte Medium, in diesen Unschärfebereich vorzudringen.
Neben diesen Unschärfeportraits thematisiere ich in meinen Werken seit Kurzem formal sehr realistisch überzeichnete Werke von Landschaften und Blumen. In dieser neuen Werkreihe interessiert mich sowohl ein struktureller Ansatz als auch die Idee, eine Zeitreise zu den Anfängen der Malerei der Renaissance zu machen. So hatten Blumen beispielsweise eine ausgeprägt symbolische Bedeutung, hergeleitet von der Bedeutung der Farben. Weiß zum Beispiel stand für Unschuld und Reinheit aber auch für Eleganz und Vollkommenheit. Rosafarbene Blumen symbolisieren Zärtlichkeit, Liebe und Sehnsucht. Für romantische Liebe und Leidenschaft sind vor allem rote Blumen wie Rosen bekannt. Strahlend gelbe Blüten drückten Wärme, Glück, Lebensfreude, aber auch Leid und Eifersucht aus. (Quelle: Wikipedia 2024). Es ist nachvollziehbar, dass wir in der Kunst immer auf der Suche nach neuen Techniken und einer neuen Formensprache sind.
Das Neue begeistert und inspiriert uns. „Stillstand ist der Tod, es lebe der Fortschritt!“ In Zeiten der großen Klimakrise und nachhaltigen Zerstörung unserer Umwelt von Kriegstreibern vor allem aufgrund wirtschaftlicher Interessen, erlebe ich persönlich ein tiefes Bedürfnis nach Traditionen. Nach altbewährten Stilmitteln, gepaart mit dem Urzeitmaterial Filz und digitaler Gegenwartskunst. Traditionelle Malweisen im neuen Kleid mit digitalen Fototechniken und analoger Filzkunst.
Kim Kluge 2024